Screenshot der Leitlinie Nr. 10

(Neue) Leitlinien der EU-Kommission

Über Leitlinien und Klarstellungen unternimmt die EU-Kommission seit geraumer Zeit den Versuch, besonders interpretationsbedürftige Sachverhalte rund um die Lenk- und Ruhezeitvorschriften oder zum Fahrtenschreiber auszulegen und einer einheitlichen Umsetzung innerhalb der EU zuzuführen. Im Frühjahr 2022 wurden zwei neue Leitlinien veröffentlicht.

Auf der Webseite der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der EU-Kommission sind zahlreiche hilfreiche Informationen für alle Parteien, die mit den EU-Vorschriften rund um die Güter- oder Personenbeförderung umgehen müssen, hinterlegt. Unter anderem sind dort die seit Verabschiedung des EU-Mobilitätspaket I veröffentlichten Fragen-Antworten-Kataloge zu finden. In diesem Artikel geht es allerdings nicht um diese recht neue Gattung von umsetzungsunterstützenden Interpretationsveröffentlichungen seitens der EU-Kommission, sondern um die zahlreichen Leitlinien und Klarstellungen zu diversen fahrpersonalrechtlichen Einzelaspekten, die die EU-Kommission in den letzten Jahren (seit 2006?!) veröffentlicht hat.

Diese sind teilweise schwer veraltet, in ein paar Fällen wurden insbesondere durch das Mobilitätspaket Ergänzungen bzw. Erweiterungen oder auch substanzielle Veränderungen an den Vorschriften vorgenommen, die die Leitlinien und Klarstellungen nicht abbilden. Ich werde bei der unten folgenden Auflistung der Dokumente jeweils einen kurzen Kommentar hinterlassen, wenn die Ausführungen aus Sicht des Jahres 2022 nicht mehr ganz dem aktuellen Rechtsstand entsprechen oder anderweitig zu hinterfragen sind. In meinem Fachbuch zu allen fahrpersonalrechtlichen Folgen des Mobilitätpaket I sind die Neuerungen dargestellt.

Ich habe die „guidance notes“ (Leitlinien) und „clarification notes“ (Klarstellungen) hier in ihrer Gesamtheit verlinkt. Im Einzelnen gibt es folgende Leitlinien (die Leitlinie 1 bis 8 gibt es auf Deutsch, die beiden neuen, also Nr. 9 und Nr. 10, nur auf Englisch) und Klarstellungen (generell nur in Englisch):

Leitlinie Nr. 1 – Ausnahmsweise Abweichung von den Mindestruhezeiten und maximalen Lenkzeiten zum Aufsuchen eines geeigneten Halteplatzes (Artikel 12 Absatz 1 der VO (EG) Nr. 561/2006)

Da der Artikel 12 durch das Mobilitätspaket in recht komplizierter Art und Weise erweitert wurde (Lenkzeitverlängerung um eine Wochenruhezeit an einem geeigneten Ort einzulegen), sind undifferenzierte Übertragungen aus der Leitlinie auf diese neuen Regeln nur eingeschränkt möglich. Für die Auslegung der Alt- oder Bestandsregelung ist die Leitlinie recht hilfreich.

Leitlinie Nr. 2 – Erfassung der Zeiten, die ein Fahrer aufwendet, um sich zu einem Ort zu begeben, bei dem es sich nicht um den üblichen Ort der Übernahme oder Übergabe eines in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 fallenden Fahrzeugs handelt (Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Die Aussagen in der Leitlinie sind grundsätzlich aktuell. Nationale Urteile sind bei der Einzelfallprüfung zu berücksichtigen.

Leitlinie Nr. 3 – Anordnung einer Unterbrechung einer Ruhepause oder einer täglichen oder wöchentlichen Ruhezeit zum Bewegen eines Fahrzeugs an einem Terminal, einem Parkplatz oder einer Grenze (Artikel 4 Buchstaben d und f der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Aussagen der Leitlinie sind aktuell.

Leitlinie Nr. 4 – Aufzeichnung der Lenkzeiten durch digitale Fahrtenschreiber bei Fahrten, die mit häufigen Stopps verbunden sind (Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 mit Bezugnahme auf die Verordnung (EG) Nr. 1360/2002 (Anhang 1 B))

Die Leitlinie greift ein Thema auf, das bei aktuellen Fahrtenschreiberversionen so nicht mehr auftritt, da es vereinfacht ausgedrückt durch die sogenannte Ein-Minuten-Regel „gelöst“ wurde. Wer noch mit älteren Fahrtenschreibern unterwegs ist (Drei-Minuten-Regel), kann sich im Zuge von Ordnungswidrigkeitenverfahren ggf. auf diese Richtlinie beziehen.

Leitlinie Nr. 5 – Formblatt zur Bescheinigung von Tätigkeiten gemäß dem Beschluss der Kommission vom 14. Dezember 2009 zur Änderung der Entscheidung 2007/230/EG über ein Formblatt betreffend die Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr (Artikel 11 Absatz 3 und Artikel 13 der Richtlinie 2006/22/EG)

Hierzu mache ich keine langen Ausführungen, sondern verweise auf meinen Artikel zum EU-Formblatt. Siehe auch Klarstellung Nr. 7.

Leitlinie Nr. 6 (die verlinkte deutsche Sprachfassung funktioniert nicht, deshalb die englische Fassung) – Aufzeichnung der Zeit, die der Fahrer in einem Zug oder auf einem Fährschiff verbringt, wo ihm eine Schlafkabine oder ein Liegeplatz zur Verfügung steht (9 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Das Thema wurde durch das Mobilitätspaket angefasst und leicht verändert. In den Grundzügen sollte der Leitlinientext den „Kern des Pudels“ noch ganz gut beschreiben, aber – wie manche wissen – hat sich die Welt weiterbewegt.

Leitlinie Nr. 7 – Die Bedeutung von „innerhalb von 24 Stunden“ (8 Absätze 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Die Leitlinie Nr. 7 ist eine ganz spezielle. Beim Fachpublikum hat sie für Stirnrunzeln (oder auch Fremdscham) geführt, da die Kommission hier Fallbeispiele aufzeigt, die schwer in der Illegalität zu verorten sind. Das Thema 24-Stunden-Zeitraum ist per se ein nicht ganz einfaches. Wenn man von den groben Schnitzern in den Ausführungen (insb. den „Darstellungen“) absieht, kann die Leitlinie aber grds. als hilfreich erachtet werden, wobei ihre Aussagen unter den Gelehrten durchaus umstritten sind.

Leitlinie Nr. 8 – Ausnahmesituationen, in denen Fahren ohne Fahrerkarte zulässig ist (Artikel 29 der Verordnung (EU) Nr. 165/2014 (Artikel 16 der aufgehobenen Verordnung (EG) Nr. 3821/85) und Artikel 13 Absatz 3 des Anhangs zum Europäischen Übereinkommen über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR))

Das Thema trifft einzelne Fahrer in seltenen Fällen. Von Diebstahl oder Verlust abgesehen ist meiner Kenntnis nach die Defektquote bei Fahrerkarten und auch Fahrtenschreibern recht gering. Die Leitlinie ist grundsätzlich aktuell. Dass die Fristen mit dem EU-Mobilitätpaket nicht angepasst wurden, ist aus Sicht des Betroffenen unschön und aus Sicht der Fachleute im Fahrpersonalrecht nur ein weiterer Beweis dafür, dass der Verordnungsgeber seine eigene Rechtsetzung nicht mehr zu überblicken vermag.

Leitlinie Nr. 9 – Harmonisierung der schriftlichen Erklärung über die Entfernung oder das Aufbrechen der Plombe eines Fahrtenschreibers durch einen Kontrollbeamten gemäß Artikel 22 Absatz 5 Unterabsatz 4 der Verordnung (EU) 165/2014

Diese Leitlinie ist „brandneu“ und beschäftigt sich mit einem Thema, das durch das EU-Mobilitätspaket I aufgekommen ist. In meinem Fachbuch ist erläutert, weshalb das eine per se ganz großartige Regel ist. Fraglich ist nur, ob sich irgendein Mitgliedstaat diese Lasten aufbürden wird, wenn er sie auch (wie bisher) dem Omnibus- oder Transportunternehmen aufhalsen kann.

Leitlinie Nr. 10 – Manuelle Aufnahme von Grenzübertrittsinformationen in einen analogen Fahrtenschreiber (Artikel 34 Absatz 6 Buchstabe f der Verordnung (EU) Nr. 165/2014)

Auch diese Leitlinie ist erst jüngst veröffentlicht worden und beschreibt, wie die seit 20. August 2020 geltende Pflicht zur Erfassung von der Grenzübertritt beim Einsatz von Fahrzeugen mit analogem Fahrtenschreiber vonstattengehen soll.

Klarstellung Nr. 1 – Anwendungsbereich der Artikel 1, 2 und 11 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006

Die Klarstellung Nr. 1 bringt zum Ausdruck, dass die nationalen Sonderwege hinsichtlich einer Aufzeichnungspflicht für Fahrzeuge unter 3,5 t zulässige Höchstmasse, wie sie in Deutschland und Österreich bestehen, rechtlich in Ordnung sind. An diesen rechtlichen Grundsätzen ändert sich auch zum 1. Juli 2026 nichts und insoweit ist die Klarstellung weiterhin „gültig“.

Klarstellung Nr. 2 – Fahrzeuge, die zu Reparatur-, Wasch- oder Wartungszwecken gefahren werden (Artikel 1, 2 sowie 4 Buchstabe a und c der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Auch in dieser Klarstellung werden juristische Grundsätze behandelt und auch diese gelten uneingeschränkt fort.

Klarstellung Nr. 3 – Fahrzeuge, die als ambulante Verkaufsstellen auf lokalen Märkten dienen (Artikel 13 Buchstabe f der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 und Artikel 13 Buchstabe d, zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Wie die Klarstellung Nr. 2 behandelt die Nr. 3 die Frage, ob die Mitgliedstaaten Ausnahmen für Fahrzeugeinsätze selbst schaffen oder durch Interpretation bestehenden Ausnahmetatbeständen zuordnen können. Die Rechtsgrundlage, auf die sich die Klarstellung bezieht (Handwerkerregelung), hat sich bereits mehrfach verändert seit Veröffentlichung des Textes. In der Sache dürfte das aber keinen Unterschied machen.

Klarstellung Nr. 4 – Einbaupflicht von Fahrtenschreibern abhängig von der zulässigen Höchstmasse des Fahrzeugs (Artikel 26 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 im Zusammenhang mit u. a. Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 „neu“)

Die Klarstellung Nr. 5 befasst sich mit einer juristischen Unschärfe im Verordnungstext einer nicht mehr gültigen Verordnung. Die getroffenen Aussagen mögen in diesem Kontext interessant sein, haben für die Praxis aber keine Wirkung.

Klarstellung Nr. 5 – Aufzeichnung einer gemischten Aktivität von Fahrten „innerhalb“ und „außerhalb“ des Geltungsbereichs (Artikel 3 Buchstabe h und Artikel 13 Buchstabe i der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Im Lichte der im Jahr 2022 geltenden Vorschriften (auch wenn sie physisch noch nicht vollständig vorhanden sind) sowie der Änderungen, die sich zwischenzeitlich (die Klarstellung fußt auf einer im Jahr 2007 aufgekommenen Fragestellung) ergeben haben, fällt es nicht leicht zu entscheiden, ob die getroffenen Aussagen hilfreich oder veraltet sind. Jedenfalls wird ein Themenbereich angesprochen, der weiterhin unklar bzw. nicht geregelt ist – das Fahren mit gesteckter Fahrerkarte im „OUT“-Modus zur Dokumentation ausgenommener Fahrten.

Klarstellung Nr. 6 – Befristete Ausnahmen in dringenden Ausnahmefällen (Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006)

Diese Klarstellung adressiert sich an die Mitgliedstaaten. Da im Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 durch das Mobilitätspaket Änderungen vorgenommen wurden und zu diesen Ausnahmen nicht nur corona- und naturkatastrophenbedingt (bzw. in UK auch politisch bedingt) zahlreiche Erfahrungen gesammelt wurden, ist ihr Praxisnutzen eher als gering einzusortieren.

Klarstellung Nr. 7 – Aufzeichnung und Kontrolle der Aktivitäts- und Inaktivitätsphasen von Fahrern, die sich fernab vom Fahrzeug aufgehalten haben (Artikel 34 Absätze 1 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 165/2014, 15 Absatz 7 der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85, 6 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006, 11 Absatz 3 der Richtlinie 2006/22/EG)

Hier hätte bereits manches an Neuerung Einzug halten müssen. Dass wir uns aber trotz erodierter Rechtsgrundlagen noch nicht von der Stelle bewegt haben, erläutere ich in meinem Artikel zum EU-Formblatt. Siehe auch Leitlinie Nr. 5.

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