Kontrolle Schwerlastverkehr durch Bundesamt für Güterverkehr

Tacho-VO-Verstöße nicht mehr sanktionierbar?

In diesem Meinungsbeitrag gehe ich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-906/19 vom 9. September 2021 ein und erläutere, welche durchaus gravierenden Folgen sich dadurch für die Kontrollbefugnisse der Mitgliedstaaten ergeben.

Das Urteil in der Rechtssache C‑906/19 fußt – verkürzt dargestellt und auf unklarer Informationslage basierend – auf einem vermeintlichen Verstoß, den französische Kontrollorgane im Jahr 2013 dadurch realisiert gesehen hatten, dass ein Omnibusfahrer eines deutschen Unternehmens, welches neben europaweiten Busfernreisen auch innerdeutsche Linienverkehre im Öffentlichen Personennahverkehr bis 50 km Streckenlänge durchführt(e), während der Fahrten im ÖPNV-Linienverkehr bzw. für diese Zeiträume keine Nachweise auf seiner Fahrerkarte aufgezeichnet bzw. erzeugt hat.

Die zunächst mit dem Fall befassten französischen Gerichte hatten dem deutschen Unternehmer eine Strafe in Höhe von 10.125 Euro auferlegt und die Rechtmäßigkeit dieser Sanktion damit begründet, dass im Fahrpersonalrecht über den Artikel 19 Absatz 2 der VO (EG) Nr. 561/2006 das sogenannte Territorialitätsprinzip aufgehoben sei. Durch diesen Mechanismus sei es möglich, Verstöße gegen die VO (EG) Nr. 561/2006 (über die Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr) und gegen die VO (EU) Nr. 165/2014¹ (über den Einbau und Betrieb eines Fahrtenschreibers zur Aufzeichnung der Lenk- und Ruhezeiten) auch dann zu ahnden, wenn die Verstöße in einem anderen EU-Mitgliedstaat begangen wurden als in dem EU-Mitgliedstaat, in dem letztlich die Kontrolle stattfindet.

Der Fall eskalierte in die nächsthöhere Instanz zum zuständigen französischen „Kassationsgericht“, das sich unter anderem aufgrund der hohen Komplexität des Fahrpersonalrechtes veranlasst sah, für die Entscheidungsfindung wichtige Fragen per „Vorabentscheidung“ durch den Europäischen Gerichtshof auslegen zu lassen und das Verfahren einstweilig auszusetzen.

Welche Fragen werden durch das Urteil beantwortet?

Folgende Fragen wurden vom Kassationsgericht beim EuGH eingereicht (sinngemäße Wiedergabe):

  1. Ermächtigen die Ausführungen im Artikel 19 Absatz 2 der VO (EG) Nr. 561/2006 die EU-Mitgliedstatten dazu, unter Ausschluss des Territorialitätsprinzips sowohl Verstoße gegen die VO (EG) Nr. 561/2006 als auch gegen die VO (EU) Nr. 165/2014 zu ahnden oder besteht eine Möglichkeit zur Sanktionierung lediglich bei Verstößen, die gegen die VO (EG) Nr. 561/2006 begangen wurden?
  2. Gilt die Pflicht des Fahrers, im Rahmen von Kontrollen lückenlose Nachweise über sämtliche Tätigkeiten und Untätigkeiten der dem aktuellen Tag vorausgehenden 28 Kalendertage vorlegen zu müssen nur für jene Tage in diesem Zeitraum, an denen das im Moment der Kontrolle kontrollierte Fahrzeug seitens des Fahrers aufzeichnungspflichtig bewegt wurde (oder andersherum: Muss ein detaillierter Nachweis für Zeiträume innerhalb der letzten 28 Kalendertage, in denen dieses Fahrzeug vom Fahrer im Rahmen einer Ausnahme (nach Artikel 3 der VO (EG) Nr. 561/2006) bewegt wurde, NICHT erbracht werden)?

Wie der Gerichtshof selbst in seinem Urteil gehe ich zuerst auf die Äußerungen der Richter zur zweiten Frage ein: Es wird klargestellt, dass übereinstimmend mit den Ausführungen im Artikel 34 Absatz 5 der VO (EU) Nr. 165/2014 bei aufzeichnungspflichtigen Fahrten ein lückenloser Nachweis vorzulegen ist, der auch jene Zeiträume abdecken muss, in denen der Fahrer Fahrzeuge bewegt hat, die vom Anwendungsbereich des Fahrpersonalrechts ausgenommen sind. Diese Auslegung war zu erwarten, da weder die rechtlichen Vorgaben der VO (EU) Nr. 165/2014 noch die Ausführungen im Artikel 15 der Vorgänger-VO (EWG) Nr. 3821/85, die je eigentlicher Gegenstand des Urteils sind, bei diesem Thema aufgreifbare Interpretationsspielräume zur Verfügung stellen.

Nun zu der deutlich spannenderen Frage Nr. 1, wobei ich zunächst ein paar Worte vorab anmerken möchte. Das EU-Mobilitätspaket I, genauer die VO (EU) 2020/1054, hat zu einer Anpassung des im EuGH-Urteil behandelten Artikel 19 der VO (EG) Nr. 561/2006 geführt. Geändert wurde jedoch lediglich dessen Absatz 1, aus dem nach wie vor herauszulesen ist, dass die nationalen Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen sowohl die Vorgaben der VO (EG) Nr. 561/2006 als auch der VO (EU) Nr. 165/2014 umfassen müssen. Die tatsächlichen Neuerungen im Artikel 19 durch das Mobilitätspaket I für die betroffenen Unternehmen und Fahrer habe ich in meinem Artikel „Bußgeldkataloge zu den Lenk- und Ruhezeiten“ beschrieben.

An den Absätzen 2 bis 4 wurde indes nicht „herumgedoktert“. Und aus dem Wortlaut der Absätze 2 und 4 ziehen die EuGH-Richter die für Antwort auf Frage Nr. 1 wesentlichen Festlegungen des EU-Gesetzgebers. Dieser habe im Absatz 2 nämlich so formuliert, dass unter Aushebelung des Territorialitätsprinzips nur jene noch nicht geahndeten Verfehlungen sanktioniert werden können, die „gegen diese Verordnung“ begangen wurden. Da an entscheidender Stelle im Artikel 19 Absatz 2 somit nur eine Bezugnahme auf die Lenk- und Ruhezeitenverordnung (EG) Nr. 561/2006 stattfindet, nicht aber die Fahrtenschreiberverordnung (EU) Nr. 165/2014, ist es aus Sicht des EuGH eindeutig, dass der EU-Gesetzgeber lediglich Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeiten auch im Ausland einer Ahndung unterwerfen will.

Und was bedeutet das für die Kontrollpraxis?

Das Urteil stellt insoweit eine kleine Sensation dar, als es den Mitgliedstaaten nun also nicht mehr erlaubt ist, Bußgelder für Verstöße auszusprechen, die

a) im Ausland begangen wurden und (im Sinne von: zugleich)

b) aufgrund einer Vorgabe aus der VO (EU) Nr. 165/2014 bei Verstoß mit einer Sanktionierung bedroht sind.

Hier ein paar Beispiele für nonkonformes Verhalten, das seit September 2021 nicht mehr geahndet werden kann, wenn „die Tat“ in einem anderen Mitgliedstaat begangen wurde als dem, in dem der Verstoß bei einer Kontrolle festgestellt wird:

  • Geschwindigkeitsüberschreitungen auf Basis der Geschwindigkeitsaufzeichnungen des Fahrtenschreibers
  • Nicht-Kalibrierung des Fahrtenschreibers oder unterlassene Überprüfung im Zwei-Jahres-Rhythmus
  • Nicht-Vorhandensein eines Fahrtenschreibers
  • Nicht-Benutzung eines Fahrtenschreibers oder Anfertigung von Aufzeichnungen auf einer Fahrerkarte, die dem Fahrer nicht gehört oder die er unrechtmäßig erworben hat
  • Unterlassene manuelle Nachträge auf der Fahrerkarte/Tachoscheibe oder Nicht-Mitführen eines anderweitigen Nachweises für Tätigkeitszeiträume in der Vergangenheit (wobei hier die Vorgaben des Artikel 6 Absatz 5 der VO (EG) Nr. 561/2006 zu beachten wären, die eine Sanktionierung ermöglichen sollten)
  • Fehlerhafte Aufzeichnung von Mehr-Fahrer-Besatzungen
  • Falsch- oder Nicht-Eingabe von Ländersymbolen (z. B. bei Arbeitsbeginn und -ende oder auch beim Grenzübertritt ab 2.2.2022) oder anderer „Funktionen“ wie Fähre/Zug

Bevor beim geneigten Leser allzu große Freude aufkommt, muss natürlich einschränkend festgehalten werden, dass zahlreiche der zuvor aufgeführten Verstöße sehr wohl auch in Zukunft von ausländischen Kontrollorganen bebußt werden können. Was sich in vielen Fällen lediglich ändert ist, dass ein Fehlverhalten „nur noch“ für den Zeitraum geahndet werden kann, während dem sich der Fahrer auf dem Hoheitsgebiet des Staates, in dem die Kontrolle soeben stattfindet, aufgehalten hat.

Und dadurch, dass ab dem 2. Februar 2022 alle Fahrer von Fahrzeugen, die mit einem digitalen (oder intelligenten) Fahrtenschreiber ausgestattet sind, jegliche Grenzübertritte minutiös erfassen müssen, ist es alsbald ein Leichtes, den genauen Zeitpunkt festzustellen, ab dem Verstöße geahndet werden können (sofern der Fahrer nicht gegen diese Pflicht verstößt). Überschreitungen der maximal zulässigen Geschwindigkeit und viele weitere der oben angeführten Verstöße werden künftig also auch geahndet werden können. Einziger Unterschied aufgrund des EuGH-Urteils ist, dass je nach Einzelfall beispielsweise lediglich für die fünf Arbeits- oder Lenkstunden direkt vor der Kontrolle ein Verstoß geahndet werden kann (also seit Einfahrt in den jeweiligen Mitgliedstaat) und nicht mehr für den gesamten Zeitraum, in dem er in den Fahrerkarten- bzw. Massenspeicherdaten dokumentiert ist.

Ein konkretes (fiktionales) Beispiel:

Kontrollbeamte der hessischen Landespolizei kontrollieren das Fahrzeug bzw. den Fahrer eines in Bulgarien niedergelassenen Frachtführers und stellen dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit einem zugelassenen Fahrtenschreiber ausgestattet ist, obwohl dies aufgrund der zulässigen Höchstmasse des Fahrzeugs oder der Zugfahrzeug-Anhänger-Kombination notwendig wäre. Aufgrund der Aussagen des Fahrers und anderer Beweismittel, die der Fahrer aushändigt oder die die Polizisten im Fahrzeug vorfinden ist belegt, dass die Tour, während der die Kontrolle stattfindet, vor fünf Tagen in Bulgarien gestartet ist. Außerdem ist erkennbar, dass das Fahrzeug am Vortag noch in Polen eine Entladung vorgenommen hat.

Auf Basis des deutschen Buß- und Verwarnungsgeldkatalogs (für Verstöße gegen die Verordnung (EU) Nr. 165/2014) mit Stand vom September 2018 ließe sich für jeden 24-Stunden-Zeitraum, in dem der Mangel bestanden hat, für den Fahrer ein Bußgeld in Höhe von 250 Euro und für den Unternehmer in Höhe von 1.000 Euro ableiten. Nach der alten Lesart des Artikel 19 Absatz 2 der VO (EG) Nr. 561/2006 könnte man somit für die letzten fünf (oder auch für die letzten 28?!) Tage eine Rechnung aufmachen, die für den Fahrer im vierstelligen und für den Unternehmer je nachdem auch im fünfstelligen Bereich mündet. Infolge des hier behandelten EuGH-Urteils könnte der Verstoß hingegen nurmehr für den Zeitraum geahndet werden, in dem sich Fahrzeug und Fahrer auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben, also maximal für einen 24-Stunden-Zeitraum und mit den dafür vorgesehenen Bußgeldsätzen.

Fazit

Das EuGH-Urteil in der Rechtsache C‑906/19 liefert eine wichtige Klarstellung hinsichtlich der Kontrollkompetenzen der einzelnen Mitgliedstaaten und fördert insoweit die Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen und Fahrer. Da zahlreiche Verstöße gegen die Vorschriften der VO (EU) Nr. 165/2014 jedoch ein hohes Potenzial bergen, beträchtliche negative Auswirkungen auf die „Schutzzwecke der Norm“, also den Schutz der Fahrer, der anderen Verkehrsteilnehmer und den Wettbewerb im Straßengüter- und -personenverkehr zu entfalten, ist es wichtig und richtig, dass eine Sanktionierung weiterhin erfolgt, auch wenn das Maß der abschreckenden Wirkung durch die künftig wohl geringeren Bußgeldsummen kleiner ausfällt.

Das Urteil bestätigt aber auch drei wichtige Punkte: Die Bedeutung rechtskonformer Prozesse im Unternehmen und einer qualitativ hochwertigen Schulung der Fahrer und aller anderen Verantwortlichen im Unternehmen über die fahrpersonalrechtlichen Pflichten (und das richtige Verhalten in Kontrollen) sowie die Notwendigkeit, Bußgeldbescheide auf deren Substanz zu prüfen und sich im Zweifel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (im wirtschaftlich vertretbaren Rahmen) zur Wehr zu setzen.

 

¹ Zu dem Zeitpunkt, als der (vermeintliche) Verstoß begangen und infolge der Kontrolle (zunächst) einer Sanktion zugeführt wurde, galt jedoch nicht die VO (EU) Nr. 165/2014, sondern deren Vorgängerin, die VO (EWG) Nr. 3821/85. Das ist natürlich ein rein juristisch sehr wichtiger Aspekt, der für die Praxis und auch die Substanz des Urteils des EuGH jedoch keine wirkliche Wirkung entfaltet, da die vom EuGH behandelten Fragestellungen auf Sachverhalte abzielen, die in der neueren Verordnung aus 2014 nahezu identisch geregelt sind, wie dies in der Verordnung aus 1985 der Fall war.

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